A l’occasion de la Foire du livre de Francfort 2017 (la France invitée d’honneur),
sur une invitation de la galerie A1 Ausstellungshalle
avec le soutien culturel de la ville de Francfort-sur-le-main.
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Eröffnungsrede in Anwesenheit der Kulturdezernentin der Stadt Frankfurt am Main: Dr. Ina Hartwig
Sehr geehrte Frau Dr. Hartwig,
Cher Mengzhi,
meine Damen und Herren,
die Welt besteht nicht nur aus Realitäten und Pragmatismus, sondern auch aus Wünschen und Vorstellungen, Phantasien und Projektionen. Diese sind recht eigentlich die Voraussetzungen für spätere Realisierungen. „Die Welt als Wille und Vorstellung“ – um eine berühmte Schrift von Arthur Schopenhauer zu zitieren – ist auch das Thema und der Focus der Architekturmodelle des französischen Künstlers Mengzhi Zheng. Und wenn Sie sich hier umschauen, dann könnte man auf den ersten Blick meinen, dass seine Sympathien weit mehr dem „homo ludens“ als dem „homo faber“ gelten, auch und gerade im Bereich der Architektur.
Mengzhi Zheng wurde 1983 in Rui´an in China geboren. Er lebt und arbeitet in Lyon. Seine Werke wurden bereits in Lyon, Nizza, Paris, Leipzig, Landshut, Villeurbanne und Vallauris ausgestellt.
Mengzhi Zheng thematisiert nicht Gebäude an sich, sondern ihre Strukturen, genauer: Erinnerungen an ihre realen oder möglichen Strukturen. Seine fragilen Karton- Modelle, seine leichten und feingliedrigen Installationen, aber auch seine grafischen Arbeiten bewegen sich zwischen den Gattungen Architektur, Skulptur und Design. Er nennt seine Skulpturen, die er aus ausrangierten Verpackungs-materialien fertigt, „maquettes abandonnées“ – „verlassene Modelle“. Oft entstehen seine Arbeiten vor Ort. Insofern sind es „as found“-Objekte eines Bricoleurs, eines Gedanken-Architekten, den nicht die pragmatischen Funktionen von Gebäuden, sondern ihre poetischen Qualitäten interessieren, auf die er sich fokussiert.
Der Künstler macht das, was Architekten normalerweise als frühe Vorstufen für eine Gebäudeplanung ansehen, zum Zentrum seines Denkens. Allerdings haben Architekturmodelle ebenso komplexe wie konzeptionelle Potenziale. Neben der Architekturmalerei, der Architekturskulptur, den architektonischen Skizzen und Graphiken bilden sie einen poetischen fiktionalen Kosmos der Architektur, der jenen der pragmatischen, gebauten Realität der Städte und Häuser gleichberechtigt ergänzt und bereichert. Dabei bilden die Architekturmodelle die Bauauffassungen einzelner Epochen und Stile oft deutlicher und konzentrierter ab als die gebaute Wirklichkeit.
Das reicht von den aufklappbaren Edelholz- und Furniermodellen der Renaissance und des Barock und den berühmten klassizistisch-antikisierenden Korkmodellen des 18. Jahrhunderts zu den expressionistischen Modellen eines Erich Mendelsohn oder Hans Poelzig, den stereometrischen Exerzitien vieler Entwürfe des neuen Bauens, etwa von Le Corbusier und Ludwig Mies van der Rohe, aber auch von de Stijl-Architekten wie Gerrit Rietveld und russischen Konstruktivisten wie Konstantin Melnikow, zu den Pop Architekturen von Archigram, zur Postmoderne eines Charles Moore und zu Dekonstruktivisten wie Daniel Libeskind oder Zaha Hadid. Nicht zu vergessen die experimentellen, über Kopf gehängten Drahtmodelle eines Frei Otto, mit deren Hilfe die jeweils optimierte Statik überhaupt erst berechenbar wurde.
Modelle sind ja immer vereinfachte Abbildungen der Wirklichkeit. Die pragmatischen Modelle der Architekten beziehen sich stets auf gebaute Wirklichkeiten, bilden aber jeweils nur einige ihrer Attribute und Eigenschaften ab. Modelle der bauenden Architekten sind eigentlich immer Strukturmodelle, die abstrahieren und reduzieren. Sogenannte Skalenmodelle haben einen maßstäblichen Bezug zur Wirklichkeit, während Analogiemodelle eine Strukturähnlichkeit zur abgebildeten Wirklichkeit erzeugen. So dienen diese pragmatischen Modelle immer der Vermittlung einer Entwurfsidee. Sie sind also Arbeits- und Entwurfswerkzeuge, um Kubaturen und räumliche Zusammenhänge zu erfassen. Oft aber sind Architekturmodelle auch utopische Weiterentwicklungen der gebauten Realität. Sie nehmen Entwicklungen vorweg, die technisch oder statisch erst in der Zukunft zu realisieren sind. Manchmal kommt es dann allerdings vor, dass Gebäude die utopische Prognose des Modells einlösen. Dann haben die Modelle, wie Ernst Bloch sagen würde, einen „Vorscheincharakter“.
Mengzhi Zhengs Modelle partizipieren zwar in Struktur und Farbe, in ihren Materialien und Raumauffassungen an dieser Entwicklungsgeschichte der Gattung Architekturmodell und sind Teil von ihr, aber sie sind auch Teil zeitgenössischer Kunst, etwa der „arte povera“, deren Künstler ebenfalls mit gewöhnlichen und alltäglichen Materialien wie Holz, Bindfäden, Kunststoff und Pappe arbeiteten und die Banalität zum Kunstwerk erklärten.
Bei den heute hier gezeigten Modellen werden teilweise signalbunte Papier- und Kartonreste notdürftig und fragil mit Klebebändern zusammengehalten; Wellpappen zeigen sich als abgerissene Abfälle, ebenso kleine Latten, die diese Pappen mit Mühe und Not verbinden. Sie wirken wie gefundene Hinterlassenschaften eines überstürzten Aufbruchs; manche von ihnen erinnern mit ihrer zusammengeflickten Kargheit an jene notdürftigen Bleiben, die Menschen aus Blechdosen, Strandgut, Abfallholz und Wellblech in den Peripherien von Megastädten errichtet haben. Und es kommen einem unwillkürlich Bilder der jüngsten Naturkatastrophen in den Sinn. Manchmal holt die Realität die Kunst ein.
Eine etwas versöhnlichere Lesart mag in diesen ephemeren Modellen auch Anklänge an kindliches Bauspielen mit seinem Austesten abenteuerlicher Statiken assoziieren. Bauen als Test, als Versuch, als Neugierde.
Doch Mengzhi Zheng geht es um konzeptionelle Statements, um periphere, flüchtige Notationen von Raumstimmungen und architektonische Emotionen. Dazu passt der Begriff „maquettes abandonnées – verlassene Modelle“, weil er auch auf soziale Kontexte verweist. Auf das oft erzwungene Verlassen von Lebensräumen, etwa bei Umsiedlungen wegen eines Staudamm-Projektes oder eines Neubaugebietes. Trotz aller Flüchtigkeit und ephemeren Fragilität haben diese „maquettes abandonnées“ also auch eine politische und soziale Dimension. Mengzhi Zhengs ephemere Modelle sind insofern auch ein subtiler Kommentar auf das generelle und spezielle Unbehaustsein der Menschen in der Welt. Generell, weil, philosophisch gesprochen, Menschen nie ankommen und immer Reisende bleiben. Sie sind, wie dies die französischen Existenzialisten ausdrückten, ins Leben geworfen.
Speziell, weil Menschen aus vielerlei Gründen manchmal in die Unbehaustheit gezwungen werden. Theoretische Begriffe und Redewendungen wie die Urhütte, ein Dach über dem Kopf haben, My home is my castle , Dinge unter Dach und Fach bringen, die eigenen vier Wände oder eigener Herd ist Goldes wert verdeutlichen, dass Behaustsein immer zugleich klimatische, fortifikatorische, zivilisatorische und wirtschaftliche Sicherheit meint. Ist man behaust, so hat man seinen physischen wie metaphysischen Ort in der Welt definiert und gefunden.
Insofern kann man die Modell- Notationen von Mengzhi als ein Versprechen auf eine noch nicht realisierte, in der Ferne liegende Behaustheit, aber auch als Mahnmale verlorener und zerstörter Behaustheiten verstehen.
Aber diese „verlassenen Modelle“ spielen auch imaginierte Lebensverläufe herbei.
Was hat in diesen Gehäusen wohl einmal stattgefunden und warum wurden sie verlassen? Sind Bewohner ausgewandert, sind sie geflüchtet, wurden sie vertrieben, verfolgt, unterdrückt? War dieses Verlassen vielleicht aber auch freiwillig, weil sich bessere Lebenschancen boten? Durch solche Fragen wird klar, dass diese Modelle Imaginierte Lebensverläufe und Schicksale provozieren, die aber eben nicht erzählt werden. Auch die Ereignisse sind, obschon man sie assoziieren mag, „abandonnée“,abwesend. Anwesend in der Abwesenheit: auch das ist eine philosophische Dimension dieser ephemeren Modell-Notate.
Zugleich thematisieren diese Werke auch die Vergänglichkeit allen Lebens und allen Bauens. Es sind memento mori- Indizien, wie flüchtige Spuren im Sand der Strände.
Dabei gestaltet der Künstler allerdings keine Objekte mit Patina, also Dinge, denen die vergehende und vergangene Zeit materielle Spuren eingeschrieben hat, sondern Artefakte, die jenseits von geschichtlichen Spuren argumentieren.
Bei Mengzhi Zhengs „maquettes abandonnées“ werden Reales und Imaginäres, Erinnerungen und Sehnsüchte, Symbolik und Materialität als „Möglichkeit der Dinge“ gezeigt. In dem aber diese Modelle eher Andeutungen als Gewissheiten sind, potenzieren sie die Phantasie ihrer Betrachter. Sie haben ihre Zukunft, ihre Entfaltung noch vor sich. Und sie sind, um Le Corbusier zu zitieren, ein „ernsthaftes Spiel“. Und zu diesem ernsthaftem Spiel gehören auch die auf den jeweiligen Ausstellungsraum bezogenen, raumgreifenden Installationen, die der Künstler eigens für diese Räume entwirft und die erst während des Aufbaus einer Ausstellung entstehen.
So ist Zhengs Raumgerüst, in dem Sie sich heute Abend bewegen, einerseits ein begehbares Environment, aber andererseits auch ein Kommentar auf den Raum und das Gebäude, in dem es sich befindet. Es reflektiert die Proportionen und Besonderheiten dieser Ausstellungshalle. Das Lattengerüst bildet ein Passepartout sowohl für die “maquettes abandonnées“ als auch für die „Images“, die Bilder und verortet diese in einem Koordinatennetz eines dreidimensionalen Gitters. Das Gerüst gibt den einzelnen Positionen der Modelle und der grafischen Arbeiten eine präzise Exaktheit, eine gewissermaßen nächsthöhere Ordnung. So wird aus Modell-Singles, eine Modell- Familie, man kann auch sagen: eine inszenierte Siedlung.
Aber auch dieses Gerüst erscheint fragil, flüchtig, ephemer so wie die „verlassenen Modelle“. Es sind Linien im Raum, schwebende Flächen, harte Kontraste, schwingende Rhythmen, flirrende Luft. Kein Dekor, keine Ornamente, nur gestrippte Form und nackte Struktur: Raumskelette.
Und es gesellen sich Radierungen von Gebäuden, Plätzen und Höfen hinzu, die ebenso verlassen wirken wie die ephemeren Skulpturen. Auch diese grafischen Arbeiten sind eher strukturelle als erzählerische Environments, eher Einsichten als Ansichten. Es geht bei diesen Blättern um die energetischen Nervenbahnen von Urbanität: Elektrizität, Kanalisation, Lärm, Stille, Chaos und Gleichzeitigkeit, um Texturen und Oberflächen, um die tiefe von Oberflächen und Oberflächenbahnen. Das Gewebe der Städte.
Meine Damen und Herren, gegenüber den sonor- pragmatischen Architekturkonzepten sind Mengzhi Zhengs luftige Gebilde eher räumliche Skizzen, nicht baubare Materialnotizen. Ihre Wirklichkeit ist poetisch, nicht pragmatisch: Windarchitekturen, fliegende Bauten, mehr Träume als Räume, eher unbestimmt als präzise, aber gerade deshalb empfänglich für Assoziationen, Phantasien und Projektionen. Der Künstler zeigt uns also eine „Cité imaginaire“ aus surrealen Architekturphantasien, die, wenn ihre Intensionen greifen, uns Betrachter mitnehmen in die Räume der Möglichkeiten, die die Bedingungen aller Hoffnungen sind. Es geht, so mag man sagen, um eine Ästhetik der Beiläufigkeit, um ein Programm absichtlicher Absichtslosigkeiten, aber eben auch um einen Diskurs nonchalanter Gesellschaftskritik.
Eröffnungsrede in Anwesenheit der Kulturdezernentin der
Stadt Frankfurt am Main: Dr. Ina Hartwig
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photo MZ © Adagp